Was verraten uns alevitische Rituale über die wirtschaftliche Mentalität?

Autor/innen

DOI:

https://doi.org/10.24082/2022.abked.395

Schlagworte:

Religion und Wirtschaft, wirtschaftliche Mentalität, alevitische Rituale, blutsverwandte Gesellschaft

Abstract

In Studien zur Wirtschaftsgeschichte der Türkei wird die Beziehung zwischen Religion und wirtschaftlicher Struktur in der Regel aus einer Weberschen Perspektive analysiert. Demzufolge nahmder Kapitalismus als System erst dann konkrete Gestalt an, als ein gewinnorientierter, rationaler Menschentypus (der homo oeconomicus) die Bühne der Geschichte betrat. Maßgeblich geprägt sind dieser Menschentypus und seine wirtschaftliche Mentalität durch die protestantische Ethik. DieWebersche Sichtweise verortet den Kapitalismus ineinem Wertesystem, das sich aus Werten wie Selbstbeherrschung, ehrlicher harter Arbeit und kontinuierlicher Investition des Einkommens zusammensetze, und erklärt das Nichtvorhandenseineines solchen Menschentypus in den östlichen Gesellschaften durch die dort vorherrschende und primär von Bescheidenheit geprägte wirtschaftliche Mentalität. Das Defizitvon Studien zur wirtschaftlichen Geschichte der Türkei, die sich mit dieser im Sufismus gründenden Mentalität beschäftigen, liegt darin, dass sich diese Arbeiten auf den „orthodoxen Sufismus“ konzentrieren und heterodoxe sufistischeLehren wie z.B. das Alevitentum, dasBektaschitentumoder den Melâmismus aus der Analyse ausklammern. Diese heterodoxen Lehren, die man als Widerstand gegen den Kapitalismus betrachten kann, sind bisweilen im Schatten der durchaus berechtigten Frage, warum dem Osmanischen Reich der Übergang zum Kapitalismus nicht gelang, verblieben. Die moderne Wirtschaftswissenschaft hat die Analyse präkapitalistischer Gesellschaftenindessenden Anthropologen überlassen, da sie dieseGesellschaftsformen aufgrund der zentralen Rolle, die Religion oder Glauben für deren Organisation spielen, als „irrational“ betrachtet. Der wichtigste Grund dafür ist, dass die Wirtschaft in den vormodernen Gesellschaften kein von der Gesellschaft losgelöstes Element, sondern direkt in diese eingebettet war, während in der Moderne eine Loslösung der Wirtschaft von der Gesellschaft stattgefunden hat.
In dieser Studie werden die Institutionen und Rituale des traditionellen Alevitentums, das sich in der präkapitalistischen Phase als alternativer Typus gesellschaftlicher Organisation herausgebildet hat, hinsichtlich der wirtschaftlichen Mentalität untersucht. Dabei wird die These vertreten, dass bis heute fortbestehende alevitische Rituale, beispielsweiseder Cem-Gottesdienst (cem), die Opfergabe (kurban), die Weggemeinschaft (musahiplik) und der Besuch heiliger Orte (ziyaret), sich nicht alleindurchspirituelle Überzeugungen und Werte zu erklärensind, sondern auch die materiellen Grundlagen für die praktische Umsetzung einer egalitären Gesellschaftsstruktur enthalten. Vielfach findet in Analysen der ökonomischen Mentalität jedoch frei nach dem Motto „einen Bissen zu essen und ein Jäckchen, was will man mehr“eine Romantisierungdes Alevitentums statt, dem hierbei eine passive Rolle zugeschrieben wird. Im vorliegenden Artikel wird gegen solche Annahmen argumentiert, dass das sozioökonomische Fundament der heterodoxen sufistischenSchulen imTerritorium des Osmanischen Reichs in einer staatenlosen, auf Blutsverwandtschaft beruhenden Sozialstruktur liegt, die auf einer Praxis des gegenseitigen Schenkens basiert.

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Veröffentlicht

2022-12-30

Zitationsvorschlag

[1]
Boz, Çiğdem 2022. Was verraten uns alevitische Rituale über die wirtschaftliche Mentalität?. Forschungszeitschrift über Alevitentum und Bektaschitentum. 26 (Dez. 2022), 3–35. DOI:https://doi.org/10.24082/2022.abked.395.

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