Alevitische Anstand und Würde bei Âşik Kul Semaî
DOI:
https://doi.org/10.24082/2019.abked.242Schlagworte:
Alevitentum, Anstand und Würde, Âşık Kul Semaî, der StrebendeAbstract
Das Umfeld, in dem die Volksdichter und -sänger sozialisiert werden, das Glaubenssystem, zu dem sie sich bekennen und die Rahmenbedingungen, in denen sie ihre Gedichte vortragen, sind wichtig für die Entstehung der Inhalte ihrer Gedichte. Bei der Entstehung der Gedichte des Volksdichters und -sängers Âşık Kul Semaî, der im alevitischen Glaubenssystem und in der Tradition des alevitischen Hymnensängers (zâkirlik) sozialisiert wurde, sind die Einflüße des Umfelds, unter denen er aufgewachsen ist, nicht zu übersehen. Âşık Kul Semaî, der seit seiner Kindheit an den alevitischen Gottesdiensten (cem) teilnahm und die Gelegenheit bekam, das Alevitentum zu praktizieren und theoretisch zu ergründen, drückte in seinen Gedichten die Bindung und die Liebe zum Prophet Muhammed und zu Imam Ali, zu den Zwölf Imamen und zu der Nachkommenschaft des Propheten Muhammed und des Imams Ali aus und betonte in seinen Gedichten auch die Bedeutung der Anstand und Würde im Alevitentum, welche die alevitischen Strebenden (talip), die der alevitischen Tradition verbunden sind, verfolgen sollten.
Nach dem alevitischen Glauben gibt es für den Menschen, der sich dem Weg der Gerechtigkeit (hak yolu) anschließt, bestimmte Stufen, die er passieren muss und einige Vorschriften, die einzuhalten sind. Diese Stufen und Vorschriften werden als Anstand und Würde (edep ve erkân) bezeichnet. Damit der alevitische Strebende (talip) zum moralisch vollkommenen Menschen (kamil insan) wird und zu Gott findet, ist es erforderlich, dass er sich einem ihm den rechten Weg weisenden religiösen Führer (mürşid) anschließt und Selbsterkenntnis ausübt und sich von seinen Gelüsten befreiet und der Reihe nach die Regeln des Konzepts der Vier Tore und der Vierzig Pforten beachtet. Der Volkssänger und -dichter Âşık Kul Semaî, der in der Alevitisch-Bektaschi Tradition beheimatet war, betonte in seinen Gedichten die Bedeutung der Anstand und Würde im Alevitentum. Nach dem alevitischen Glauben muss der Mensch die geistigen Stufen des Konzepts der Vier Tore und der Vierzig Pforten zurücklegen, um Gott zu erreichen und sich mit ihm zu vereinigen. Darüber hinaus beschreibt das Konzept der Vier Tore und Vierzig Pforten die geistigen Stufen, die der Strebende (talib) passieren muss, welche zugleich auch die Grundvoraussetzung dafür bilden, dass der Strebende den Rang des moralisch vollkommenen Menschen erlangt.
Semaî bringt in seinen Gedichten zum Ausdruck, dass die als Scharia (das Religionsrecht), als mystischer Pfad (Tarikat), als Erkenntnis des Nächtsten (Marifet) und Wahrheit (Hakikat) bezeichneten Vier Tore und Vierzig Pforten, jene Regeln sind, an die sich der alevitische Strebende, der auf dem Pfad der Gerechtigkeit Fortschritte erzielen will, halten soll und dass nur der Strebende, der sich genau an all diese Regeln hält, Erfolge auf dem Pfad zu Gott erzielen kann. Darüber hinaus betont Semaî, dass der Strebende, der sich dem Pfad der Gerechtigkeit widmet und dafür alles in Kauf nimmt, nur dann ein moralisch vollkommener Mensch werden kann, wenn er sich an all diese Regeln hält. Nach alevitischem Glauben können die Menschen in die göttlichen Geheimnisse nur dann eingeweiht werden, wenn sie sich zu moralisch vollkommenen Menschen entwickeln. Aus diesem Grunde spielt es in dem alevitischen Glaubenssystem eine besondere Rolle, die Regeln des Konzepts der Vier Tore und Vierzig Pforten zu befolgen.