Die vierstufige Jenseitsbruderschaft nach Art und Ritus der Tahtaci Aleviten
DOI:
https://doi.org/10.24082/2019.abked.237Schlagworte:
Alevitentum, Tahtacı Aleviten, Tahtacı Geistlichen-Trägerfamilien, Weggemeinschaft, vierstufige JenseitsbruderschaftAbstract
Damit die Individuen ein wahres Mitglied der alevitischen Gemeinschaft werden können und an den Gottesdiensten (cem), insbesondere an den Gottesdiensten der Rechenschaft (görgü cemi) teilnehmen können, ist es nach dem anatolischen Alevitentum notwendig, dass man Weggemeinschaften einrichtet (musahiplik). Die Weggemeinschaft als eine Art religiöse und soziale Wahlverwandtschaft beruht auf das zeremonielle Ablegen eines Versprechens (ikrar) in Gegenwart der Geistlichen (dede) und der alevitischen Strebenden (talip) und bedeutet, dass zwei verheiratete Personen zusammen mit ihren Ehefrauen bis zum Jüngsten Gericht einen Bund als Brüdern und Schwestern schließen und dass sie sich unter allen Bedingungen des Lebens gegenseitig helfen und aneinander schützen und in Einheit und Zusammenhalt leben werden. Dieser Bund, der im Leben nur einmal geschlossen werden kann, kann auch nicht durch Umstände des Todes, des Fehlverhaltens (düşkünlük) und der Trennung erneuert werden. Insofern diese Wahlverwandtschaft bis zum Tode andauert, wird musahiplik auch als “Jenseitsbruderschaft” (“ahiret kardeşliği”) oder als “Wegbruderschaft” (“yol kardeşliği”) bezeichnet.
Nach der Tradition geht die – Praxis der - Weggemeinschaft auf die Zeit des Propheten zurück und man glaubt, dass der Ehrenwerte Imam Ali der Weggefährte von Prophet Muhammed war. Dadurch, dass sich die Religionsführer (pir) und die Strebenden (talip) einen Weggefährten bis zum Jüngsten Gericht genommen haben, “vermehrten sie ihren Besitz und erhöhten Ihre Lebenskraft” und daher gelten sie als Leute, die sich vollends dem alevitischen Weg gewidmet haben. Nach dem alevitischen Glauben haben Leute, die nicht geheiratet haben und keinen Bund mit einem Weggefährten geschlossen haben, nicht das Recht, an der Gottesandacht (cem) teilzunehmen. Aus diesem Grunde hat die Weggemeinschaft eine große Rolle bei der Erhaltung und Fortsetzung des alevitischen Weges und des Ritus.
In diesem Artikel wurden die Rituale der Weggemeinschaft der Tahtacı Aleviten untersucht, die eine Untergruppe der Aleviten-Turkmenen bilden. Die Geistlichen (dede) der Tahtacı Aleviten stammen aus dem “Ocak” (Geistlichen-Trägerfamilien) genannten Geschlechtern ab, die - unter den Aleviten- ein heiliges Ansehen genießen. Bei einer dieser Geistlichen-Trägerfamilie (Ocak) handelt es sich um Yanyatır Ocağı in der Kreisstadt Narlıdere in der Provinz İzmir, bei der anderen Geistlichen-Trägerfamilie handelt es sich um Hacı Emirli Ocağı, welcher sich in der Gemeinde Kızılcapınar Köyü, der Kreisstadt Germencik und der Provinz Aydın befindet. Die Rituale der Weggemeinschaft unter den Tahtacı Aleviten von Yanyatır Ocağı weisen dabei größere Unterschiede sowohl zu den Sippen des Hacı Emirli Ocağı aus als auch gegenüber den alevitischen Untergruppen, die in Anatolien anderen Geistlichen-Trägerfamilien (ocak) verbunden sind. Danach wird im anatolischen Alevitentum als Wegbruderschaft nur “muhasiplik” akzeptiert. Unter den Yanyatır Tahtacıları Aleviten wird “musahiplik” zwar als die erste Wegbruderschaft anerkannt, danach folgen aber der Reihe nach im Rahmen der vierstufigen Jenseitsbruderschaft die weiteren Stufen, die “aşinalık, peşinelik und çığıldaşlık” heißen. (Vertraulichkeit / der Respektstatus, der als Folge der moralischen Vervollkommnung entsteht / Kameradschaft zwischen den Gefährten.) Die vorliegende Arbeit befaßt sich mit der Jenseitsbruderschaft, die wir unter den Untergruppen der Tahtacı Aleviten festgestellt haben, welche dem Yanyatır Ocağı verbunden sind. Die folgende Untersuchung liefert prioritär Erkenntnisse über die Bedeutung des Glaubens der vierstufigen Wegbruderschaft innerhalb der Tradition und über deren Rolle, Voraussetzungen, Inhalte und Prozesse. Darüber hinaus erfolgen Bewertungen über die Funktionen des Glaubens an die Wegbruderschaft im religiösen und soziokullturellen Leben, die von Generationen zu Generationen in einem mündlich überlieferten Umfeld ihre klaren Bestimmungen erfahren hat und sich dank ihrer Duchsetzungskraft institutionalisieren und eine Struktur gewinnen konnte.