Ein Ritual, das die Alltags- und Glaubenswelten der Aleviten prägt: der Cem-Gottesdienst
DOI:
https://doi.org/10.24082/2023.abked.415Schlagworte:
Alevitentum, Cem, Cem-Häuser, religiöse Rituale, Narrative, soziale FunktionAbstract
Entstanden als Auslegung des Islam oder zumindest unter dessen Einfluss hat das Alevitentum diverse Elemente des Glaubens und der Philosophie des Islam aufgenommen und diese zu sozialen Institutionen entwickelt und in die Praxis umgesetzt, um auf diese Weise eine Lebensordnung zu schaffen, die den sozioökonomischen, rechtlichen und moralischen Bedürfnissen der alevitisch-bektaschischen Gemeinschaft unter Berücksichtigung des Prinzips der Gleichheit gerecht wird.
Es wird angenommen, dass das Cem-Ritual, das alle sozialen Formen des Gottesdienstes im Alevitentum umfasst, erstmals auf der „Versammlung der vierzig Heiligen“ durchgeführt wurde. Im Cem, dem kollektiven Gottesdienst der Aleviten, gibt es bestimmte Regeln. Während des Cem werden zudem rituell die sogenannten „Zwölf Dienste“ von Personen geleistet, die für die Dauer des Gottesdienstes mit diesen beauftragt werden.
Die Cem-Rituale finden in der Regel in den Herbst- und Wintermonaten statt, wenn die in der Landwirtschaft und Viehzucht tätigen Aleviten ihre Arbeit beenden und sich in ihre Häuser zurückziehen. Die Cem-Rituale werden im Allgemeinen in der Nacht von Donnerstag auf Freitag durchgeführt. Wenn der Dede das Dorf besucht, finden sie häufiger statt. Unter der Leitung der Dedes oder Babas werden die Cem-Rituale von Männern und Frauen gemeinsam begangen. Das Cem-Ritual erlaubt es den Aleviten, ihre Gebete an Gott zu richten, und erfüllt zudem eine erzieherische Funktion in der Bildung der Individuen. Das Ausführen religiöser Rituale sorgt für eine religiöse Sozialisierung, leitet die Individuen zu stärkerer Selbstkontrolle an, und stellt ihr Verhalten unter die Kontrolle der Gemeinschaft. Das alevitische Glaubenssystem hat sich in einer Struktur institutionalisiert, deren Ziel darin liegt, moralische und vollkommene Individuen hervorzubringen. Das Cem-Ritual hat dabei für die alevitische Gemeinschaft gewissermaßen die Funktion einer Schule übernommen. Heute ist zu beobachten, dass das Cem-Ritual sich strukturell verändert und teilweise von seinen ursprünglichen Funktionen entfernt hat.
Die Cem-Rituale haben heute eine deutlich begrenztere Funktion als in der Vergangenheit. Innerhalb der neuen sozioökonomischen Struktur erfüllen die Cems weiterhin ihre glaubensbezogene Funktion. Der Wunsch der Aleviten, Gottesdienste begehen zu können, ist heutzutage der wichtigste Faktor für den Bau von Cem-Häusern. So liegt die wichtigste Funktion der Cem-Häuser heute darin, dass Cem-Gottedienste hier kollektiv begangen werden können. Auf diese Weise wird versucht, den alevitischen Glauben und die alevitischen Lehren lebendig zu halten.
Heute werden in den Cem-Häusern nicht nur religiöse Dienste, sondern auch soziale Solidarität und gegenseitige Hilfe praktiziert, um bedürftige Personen zu unterstützen. So werden zum Beispiel Stipendien an Studenten mit geringen finanziellen Mitteln vergeben, Vorbereitungskurse für Studenten organisiert, die die Kurse anderer Einrichtungen nicht besuchen können, Lebensmittel und Kleidung an zuvor als bedürftig ermittelte Familien verteilt, Beschneidungszeremonien für Kinder organisiert, finanzielle Hilfe und seelischer Beistand für junge Paare geleistet, die nicht heiraten können, und kostenlose Gesundheitsdienste für Personen bereitgestellt, die sich einen Arztbesuch nicht leisten können. An bestimmten Tagen in der Woche wird in den Suppenküchen der Cem-Häuser Essen an bedürftige Personen ausgegeben. Auf diese Weise können andere Aleviten ihre Gelöbnismahle und die traditionellen Mahlzeiten, die am vierzigsten Tag nach dem Tod eines Verwandten und am Opferfest vorbereitet werden, mit bedürftigen Personen teilen. Dies sorgt für Solidarität und Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft.
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