Die 40 Engel von Ana Buyere - Geburt, Tod und Unsterblichkeit in der Kosmologie der Aleviten von Dersim
DOI:
https://doi.org/10.24082/2021.abked.313Schlagworte:
Sein und werden, mehrteiliges Selbst, Geburtsengel, Vierziger, heilige Seen, Inkarnation, PhänomenologieAbstract
In monotheistischen, dualistischen und polytheistischen Religionen stößt man gleichermaßen auf die Idee, dass es Engel gibt, die den Menschen in den verschiedenen Phasen seines Lebens begleiten. Dass Geburtsengeln bei dem Ereignis der Geburt, der wichtigsten Schwelle im Menschenleben, die Funktion zukommt, dem Neugeborenen sein Schicksal mittels dessen Körper aufzuerlegen, ist nicht nur in der Thora und im Koran schriftlich festgehalten, sondern wird auch in den mündlich überlieferten Erzählungen Anatoliens, die insbesondere von Frauen erinnert und weitererzählt werden, in großem Detail erwähnt. Solche schriftlichen und mündlichen Erzählungen enthalten die Antworten einer Gemeinschaft auf Fragen in Bezug auf die Einzigartigkeit eines jeden Menschen, sein innewohnendes Potential und die Kräfte, die seinen Platz in der Welt und seinen Weg beeinflussen. Wenngleich die verschiedenen Beispiele von Geburtsengeln aus unterschiedlichen Glaubenssystemen, auf die in diesem Artikel eingegangen wird, Unterschiede hinsichtlich ihrer Anzahl und Eigenschaften aufweisen, haben sie dennoch gemein, dass sie Wesensgehalte, die von einem anderen Universum in die Welt fließen, dem menschlichen Körper anvertrauen, indem sie diese dem Neugeborenen übergeben. Die Erzählung von den 40 Engeln, die das Wesen des Neugeborenen, das sich in dessen Vorzügen äußern wird, in die Welt tragen, in die sie mit der Seele und dem Wesen des Neugeborenen für eine Dauer von 40 Tage eintreten, wenn sich das “Tor der Geburt” öffnet, und die der Mutter helfen, um ihr eine leichte Geburt zu bescheren, konnte in verschiedenen Regionen Anatoliens wie z.B. Sivas, Erzincan, Eskişehir, Hakkari, und Bolu nachgewiesen werden. Obwohl der Glaube an die 40 Engel in allen lokalen Kulturen Anatolien bekannt ist, knüpft dieser nur in der Kosmologie der Aleviten von Dersim (Tunceli) an eine natürliche geografische Formation an, die zugleich ein Wallfahrtsort ist. Bei diesem Ort handelt es sich um den Gletschersee Ana Buyere im Landkreis Pülümür.
In diesem Artikel soll das Verhältnis eines Gletschersees, der am Gipfel eines Berges gelegen ist und sich aus Regen- und Grundwasser speist, zur Geburt und den im Neugeborenen versammelten Wesensgehalten gemäß der Kosmologie von Dersim untersucht werden, wobei ein besonderer Fokus auf den Aussagen liegen soll, die der See in Bezug auf die Flüsse zwischen dem Menschen, dem Untergrund und der oberirdischen Welt andeutet. Wie erzeugt der Gletschersee Ana Buyere eine Körperwahrnehmung, in der sich ähnlich wie bei einem Ökosystem die unterschiedlichen Elemente auf harmonische Weise gegenseitig stützen müssen, und wie errichtet er die anderen Menschen und nichtmenschlichen Wesen gegenüber durchlässigen und manchmal vollends verschwindenden Grenzen des menschlichen Selbst? Wird dadurch, dass als Stätte der Engel, die Wesensgehalte wie Glaube, Vernunft und Begriffsvermögen, von denen angenommen wird, dass sie aus dem Jenseits kommen, in die Welt tragen, ein in der Wildnis gelegener See bestimmt wird, eine Behauptung in Bezug auf die Herkunft des menschlichen Bewusstseins und Begriffsvermögens aufgestellt, die sich von den Erzählungen monotheistischer Religionen unterscheidet? Die These dieser Studie lautet, dass der Stammbaum der Erzählungen der Çewres Hure Ana Buyere (40 Engel der Ana Buyere) bis zum anatolischen und mesopotamischen Demeter kult und den hethitischen Wasserkulten zurückreicht. Die Erzählungen über den Prozess der Einigung der Vierziger, die das Rückgrat des Qizilbasch-Glaubens bilden, und der harmonischen Integration aller Wesenszüge des Menschen, von dem man annimmt, dass er das ganze Universum enthält, erklären, wie heilige “unschuldiger Hirten” wie Düzgün Baba und Munzur Baba, ihrerseits Grundpfeiler der Kultur von Dersim, unsterblich wurden und wie sie sich von den Grenzen des menschlichen Körpers befreiten und eins mit einem Berg und Fluss wurden. In der Erzählung der vierzig Engel sind die Selbstfindung des Individuums und der permanente Wandel der Wesensgehalte, aus denen das Universum besteht, in der gleichen Erfahrung zusammengefasst. Gleichzeitig wird der Funktionsmechanismus der dynamischen Beziehung zwischen dem Ganzen und seinen Teilen beschrieben. Die Erzählungen stellen jedes menschliche Leben zudem als einen Weg dar, der über eine einzelne körperliche Existenz hinaus bis hin zur physischen und spirituellen Unsterblichkeit führt, so dass das Menschenleben durch glaubensbezogenen Rat angeleitet werden kann. Die mündlichen Erzählungen, die die Grundlage der Studie bilden, beruhen auf persönlichen, semistrukturierten Interviews, die im Zeitraum 2012-2017 in der Region Dersim durchgeführt worden sind.